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Jeanne-Mammen-Ausstellung

Im Nordosten der deutschen Hauptstadt liegt der Gesundheitsstandort Berlin-Buch. Seit über einem Jahrhundert ist er bekannt für seine Kliniken, Biotechnologieunternehmen und Forschungseinrichtungen. Heute ist der Campus Berlin-Buch vor allem wegen der größten hier ansässigen Forschungseinrichtung bekannt, dem Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz Gemeinschaft. Weniger bekannt ist das Gelände für seine Kunst. Diese Broschüre soll Interessierten einen Eindruck vermitteln von einem der weniger offensichtlichen, aber nicht minder beachtenswerten Teile des Campus.

Wer sich dem Gelände von der Karower Chaussee aus nähert, läuft auf ein markantes Torhaus zu. Es wurde 1916 fertiggestellt und sollte Eingangs- und Verwaltungsgebäude für den Zentralfriedhof von Buch-Karow werden. Doch das Gelände wurde zu einem Klinik- und Forschungscampus und das Torhaus seither anderweitig genutzt. Im oberen Stockwerk waren und sind noch immer Wohnungen für Gastwissenschaftler*innen. Den linken Bereich des Erdgeschosses nimmt ein Café ein, das wie das Forschungszentrum nach Max Delbrück benannt ist, dem Physiker und Biologen, der für seine genetischen Arbeiten 1969 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin erhielt. Im rechten Teil des Torhauses befindet sich die weltweit größte öffentlich ausgestellte Sammlung an Kunstwerken der Berliner Künstlerin Jeanne Mammen.

Dass diese Sammlung an diesem Ort ausgestellt ist, ist kein Zufall. Es zeugt von der langjährigen engen Freundschaft zwischen dem Wissenschaftler und der Künstlerin; siehe dazu das nächste Kapitel.

Max Delbrück und Jeanne Mammen lernten sich 1936 kennen. Der Physiker Delbrück war 1932 nach Abschluss seiner Studien zurück nach Berlin gekommen, um eine Assistenzstelle bei Lise Meitner anzutreten, beschäftigte sich aber auch auf Anraten Niels Bohrs mit Biologie. Die Malerin Jeanne Mammen war 1915 zurück in ihre Geburtsstadt Berlin gekehrt, da mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs die Familie zum Verlassen von Paris gezwungen wurde, wo Jeanne aufgewachsen war.

Delbrück versuchte in seiner Berliner Zeit in privaten Kolloquien Kontakte zwischen Physikern und Biologen herzustellen. Diese Abende fanden unter anderem im Haus des Chemikers Kurt Wohl und seiner Frau statt, der Pianistin Grete Wohl. Es waren gesellige Runden von Non-Konformisten. Hier fanden sich Wissenschaftler*innen, Schriftsteller*innen und Künstler*innen zum Austausch, frei von Naziideologie. Und hier begann die Freundschaft von zwei Menschen, die sich von ganz unterschiedlichen Seiten mit der Natur des Lebens und der Menschen befassten, die in ihrer Neugier aber seelenverwandt waren.

Delbrück verließ Deutschland 1937. Er hatte ein Rockefeller-Stipendium erhalten und wechselte an das California Institute of Technology (Caltech) in Pasadena/ USA. Während der Kriegsjahre kaufte und verkaufte er immer wieder Bilder von Jeanne Mammen und verhalf ihr so zu einem Einkommen. Auch in den Nachkriegsjahren unterstützte er die Künstlerin, u.a. mit „C.A.R.E.-Paketen“. Es folgten Besuche und gemeinsame Urlaube mit Delbrück und seiner Frau Manny. In Briefen, die erhalten blieben, hielten sie den Gedankenaustausch bis an ihr Lebensende aufrecht. Sie zeigen, wie wichtig und wie fruchtvoll dieser Austausch für beide war.

In einem Text, den Max Delbrück 1978 für die Jeanne-Mammen-Gesellschaft verfasste, schrieb er: „Meine Freundschaft mit Jeanne Mammen begann in den dreißiger Jahren, zwei Jahre vor meiner Auswanderung. Jeanne war Mitte vierzig, hatte ihre intensive künstlerische Schaffensphase der zwanziger Jahre hinter sich und begann das bittere Leben der inneren Emigration. Ich war Ende zwanzig, war noch gar nichts und stand vor der Emigration in die USA. Die Bekanntschaft kam im Hause (des Biologen Hans Gaffron und dort in der Wohnung) von Kurt und Grete Wohl am Schlachtensee zustande. (...) Dort war auch Jeanne. Sie war unscheinbar: klein, unschön, unauffällig, sagte kaum ein Wort. Ich hatte gehört, dass Jeanne malte, auch Bilder von ihr bei Wohls gesehen, aber ein Verhältnis zur Malerei, insbesondere zur zeitgenössischen, hatte ich absolut nicht. Ein leibhaftiger malender Künstler war bis dahin mir noch nicht über den Weg gelaufen. Sofern ich Bilder in Ausstellungen gesehen hatte, wunderte ich mich, worin der Sinn zu finden sei, die Wirklichkeit so zu verzerren. Einmal in der Stadtbahn zeigte Jeanne ein Bild, in dem der dargestellte Mensch statt Augen zwei schwarze Flecke hatte. Ich fragte Jeanne, warum sie die Natur so verkürze, verzerre, verfälsche. Sie guckte kurz auf, zeigte auf die Person auf der Bank gegenüber! Schaun sie doch hin, die Augen sind schwarze Flecke! Und sie waren es, überraschender und überzeugender Weise.“ 1

Die Ausstellung beginnt mit dem Porträt „Junger Mann mit Schal“ von 1937, bei dem es sich vermutlich um ein Bild von Max Delbrück handelt kurz vor seiner Abreise.

Gertrud Johanna Luise Mammen, genannt Jeanne, kommt am 21.11.1890 als jüngste Tochter von Kaufmann Gustav Oskar Mammen und seiner Ehefrau Ernestine Juliane Karoline, geb. del Haes, in Berlin zur Welt.

Jeanne wächst in einem wohlhabenden, liberal-kosmopolitischen Elternhaus auf und zeigt früh ihre Begabung: „Schon als kleines Kind habe ich alles beschmiert, was mir in die Hände kam. Immer hatte ich große Papierhaufen vor mir, die ich vollpinselte. Dann haben wir Dramen entworfen mit Mord und Totschlag und viel Liebesgeschichten – es war schrecklich schön. Ich habe nie etwas anderes gewollt, gewünscht, gemacht - ist so gradlinig wie eine Rakete. Es war ein großes Glück, trotz aller Pein das Beste, was mir passieren konnte.“ 2

Über Jeanne Mammens Schaffen wurde viel geschrieben. Ihr Studium in Paris, Brüssel und Rom, die Prägung durch den Symbolismus, die künstlerischen Phasen, die sie durchlief, von naturalistisch bis abstrakt, von kuboexpressionistisch über plastisch und graphisch bis zur Darstellung rätselhafter Chiffren. Ihr Beginn im karikaturistischen Stil, mit dem sie Alltagsszenen festhielt und so zu einer Chronistin der goldenen Zwanziger wurde. Die Initialzündung auf der Weltausstellung 1937 in Paris, die Prägung durch „Guernica“ von Picasso – den „heiligen Vater“, wie sie ihn einmal nannte. Ihre fortwährende Suche nach Darstellung von Form und Bewegung und nicht zuletzt ihr Umgang mit Mangelsituationen; ihre Fähigkeit, aus Drähten, Paketschnüren und Bonbonpapieren Kunst zu schaffen, weil sie in ihrer „Malomanie“ den einzigen Weg gefunden hatte, zu existieren. Interessierten sei dazu die Literatur der Werke empfohlen, die am Ende dieser Broschüre aufgelistet sind.

Über ihr Leben schrieb sie selbst 1974, zwei Jahre vor ihrem Tod, einen Lebenslauf für den Katalog zu einer Ausstellung ihrer Arbeiten. Der Text lautet wie folgt: „Äußerlicher Kurzbericht: Sorglose Kindheit und Jugend in Paris. Studium jäh unterbrochen durch Kriegsausbruch 1914, Flucht vor Internierung mit dem letzten Zug nach Holland. Ein halbes Jahr später Übersiedlung nach Berlin, mittellos (das ganze Hab und Gut wurde in Frankreich beschlagnahmt und später als Kriegsentschädigung versteigert). Spärlicher Verdienst durch Fotoretusche, Modezeichnungen, Kinoplakate, Schustern etc. Dann Lebensmittelkarten (ohne Lebensmittel), englische Hungerblockade, Kriegsende, Inflation. Die Lage besserte sich endlich durch Mitarbeit beim „Simpl“ und einigen anderen Zeitschriften. Mit Beginn der Hitlerzeit Verbot und Gleichschaltung aller Zeitschriften, für die ich gearbeitet hatte. Ende meiner ‚realistischen‘ Periode, Übergang zu einer den Gegenstand aufbrechenden aggressiven Malweise (als Kontrast zum offiziellen Kunstbetrieb). Zweiter Weltkrieg: Keine Ölfarbe, keine Leinwand – alle Bilder aus dieser Zeit sind mit Plakattempera auf Pappe gemalt. Lebensmittelkarten, Stempeln, Zwangsarbeit, Bombenangriffe. Zwangsausbildung zum ‚Feuerwehrmann‘: Brandwache schieben nach Entwarnung bis 3 Uhr früh. Keine Fenster, keine Heizung, weder Gas noch elektrisches Licht, keine Lebensmittel. Bilder, Lithos, Zeichnungen, Möbel zum größten Teil verbrannt, abgesoffen, gestohlen. Drei Monate Russen-Besatzung, dann Engländer am Ku-Damm. Inflation, russische Berlin-Blockade, Luftbrücke, Währungsreform. In den fünfziger Jahren Übergang zu aufgelockerter polychromer Malweise, aus der sich Mitte der sechziger Jahre das ‚Klebebild‘ (Papier- und Stanniolfetzen auf Ölgrund) entwickelt. Und prompt wieder im Genuß einer dritten und hoffentlich letzten Inflation.“ 3

Dem ist kaum etwas hinzuzufügen. Außer der Betrachtung ihrer Kunst.

Schlussbemerkungen

In ihren letzten Lebensjahren malt Jeanne Mammen nur noch chiffrierte Bilder – wie die „Verheißung eines Winters“. Durch das pastös aufgetragene Weiß scheinen hellblaue Schemen hindurch. Darauf sind einige Linien, in der Bildmitte ein kleiner Totenkopf, darüber vielleicht ein geöffneter Vogelschnabel, rechts davon ein Gesicht zu sehen. Die anderen Zeichen bleiben unklar. Auf der Rückseite steht 6. Oktober 1975. Es ist das einzige Bild, das sie je datiert hat. Und es ist ihr letztes Bild. Nachdem sie es fertig gestellt hat, verschenkt sie ihre Staffelei. Am 22. April 1976 stirbt sie.

Kurz zuvor zieht sie über ihr künstlerisches Tun folgende Bilanz: „Es ist überhaupt nichts Wichtiges zu sagen – eine höchst unwichtige Eintagsfliege.“ 4

Ihre eigene Vergänglichkeit angesichts der Zeit waren ihr stets bewusst. Ihre Werke sind ihr Vermächtnis. Sie werden bleiben.

Ich habe jetzt eine ungesunde Vorliebe für Weiß. Wenn es mir wieder besser geht, werde ich lauter weiße Bilder malen. In hunderttausend Jahren werden sie dann golden. 5

Zitate:

1 Zitiert nach Jeanne Mammen und Max Delbrück –Zeugnisse einer Freundschaft, Berlin 2005, S. 64
2 Zitiert nach Hans Kinkel, Begegnung mit Jeanne Mammen, in: Jeanne Mammen 1890 – 1976. Ein Lebensbericht, zusammengestellt von Georg Reinhardt, 1991, S. 81f
3 Zitat aus Jeanne Mammen 1890 – 1976, hrsg. von der Jeanne-Mammen-Gesellschaft in Verbindung mit der Berlinischen Galerie 1978, Edition Cantz Stuttgart-Bad Cannstatt, S.17
4 ebd. S.100
5 ebd. S.103

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